Samstag, 10. Oktober 2009
Rückblick auf Id – Plädoyer für Schuluniformen
Heute will ich mir Zeit nehmen, ein Thema anzuschneiden, dass ich schon zwei drei Wochen pendent habe: "Schuluniformen"
Schon im Vorfeld unseres Indien-Aufenthaltes sprechen wir ab und zu darüber, dass Sämi, Louis und Alice im Kiran in die Schule gehen werden. Das wirft für die Kinder natürlich viele Fragen und Bedenken auf, welche inzwischen längst vergessen sind: Ich kann kein Englisch! Ich kann kein Hindi! Wie soll ich mich verständigen? Werden mich die anderen akzeptieren? In welche Klasse komme ich? Ich gehe aber dann nicht alleine in die Schule! Ich will sicher nicht dort in die Schule, wenn ich nichts verstehe! Werden mich die anderen nicht blöd anschauen? Ihr (wir Eltern) kommt dann schon mit uns in die Schule, oder? Was, wir müssen eine Schuluniform anziehen? Ich finde eine Schuluniform eigentlich noch cool und freue mich darauf."
Wie schon in früheren Blogeinträgen berichtet, nehmen wir bereits in der ersten Woche "Mass", und am Independence Day, am 15. August 2009 stehen Sämi, Louis und Alice erstmals in den Schuluniformen da. Louis, der Einzige, der zu diesem Zeitpunkt einigermassen fit ist, steht sogar zur indischen Nationalhymne inmitten der anderen Kinder stramm.
Das Anziehen der Schuluniform ist nur zu Beginn - ein zwei Mal - ein kurzes Thema. Heute ziehen unsere Kinder am Morgen eines Schultages ihre Uniform an, als ob es nie etwas anderes gegeben hätte. Da kommt bei den Jungs höchstens noch die Frage auf: "Soll ich heute das Kurzarm- oder das Langarmhemd anziehen?" "Die kurze oder die lange Hose?" Wenn man sie auf dem Gelände rumspazieren sieht, so fallen sie natürlich ihrer Hautfarbe wegen schon noch auf. Aber auf einen Blick ist dank ihrer Schuluniform erkennbar: Sie sind Teil dieser Schule, Teil des Kirans, Teil dieser Gemeinschaft. Sie gehören hier dazu. Auswärtige BesucherInnen des Kirancenters, seien dies jetzt InderInnen, welche die Dienstleistungen des Kirans in Anspruch nehmen oder Besuchergruppen, die aus Interesse unsere Institution betreten, staunen vielleicht zuerst, dass hier weisse Kinder auf dem Gelände sind. Aber sofort ist ihnen klar, dass diese Schüler und Schülerin des Kirans sind, dass sie hier integriert sind und trotz ihrer Hautfarbe keinen Sonderstatus besitzen.
Am Montag, 21. September 2009 ist "Id". Der Tag des Fastenbrechens der Moslems. Für uns heisst das wieder einmal "holiday". Am Mittwoch darauf wird "Id" in der Schule nachgefeiert, da am Montag ja frei war. Dies obwohl das Kiran ja nicht islamitisch ist. Es ist weder christlich, hinduistisch noch buddhistisch. Und trotzdem oder gerade deswegen, feiert man hier die Festtage kreuz und quer durch die Religionen und zeigt damit, dass man andere Glaubensrichtungen akzeptiert und hier ein Nebeneinander Platz hat und möglich ist. Da finde sogar ich meinen Platz und fühle mich nicht in ein Schema gedrängt.
Schon am Dienstag machen uns die Hostelmädchen darauf aufmerksam, dass für die Id-Feier alle so angezogen kommen können, wie sie wollen. Es herrscht also kein "Schuluniforms-Zwang". Pooja zeigt uns ihr Kleid, welches sie dann anziehen wolle. Sie werde dann ein Kopftuch tragen, damit sie wie eine Muslimin aussehe, das passe zu Id. Auch unsere Kinder freuen sich darauf, ist das doch mal etwas anderes. Und tatsächlich ist es irgendwie anders. Auf dem Weg zur Morgenandacht in der grossen Halle begegnen mir wie immer, die verschiedensten Kinder und begrüssen mich mit einem "Namaste Bhaia" oder "Good Morning uncle". Die Gehörlosen, welche entsprechend auch Mühe mit sprechen haben, falten ihre Hände und nicken mir freundlich zu. Brijesch, der kleine Junge im Rollstuhl, welcher zusätzlich auch noch Sprachschwierigkeiten hat, wirft seine gefalteten Hände hoch über den Kopf und schreit mir ein "Nnsteee!!" entgegen, dabei strahlt er bis über beide Ohren. Selbstverständlich grüsse ich immer zurück. Die paar Meter zur Halle sind jeweils ein kleiner "Namaste-Marathon", der mir aber überhaupt nichts ausmacht. Am Morgen früh schon so viele glückliche und freundliche Gesichter zu sehen, ist wirklich wunderbar und hilft mir immer, den neuen Tag zufrieden und positiv anzugehen. Oft ist das glückliche und freundliche Lächeln aber nur Ausdruck der Freude über unsere kurze Begegnung, vorher und nachher haben viele Kinder einen "Krampf" mit sich selber, schleppen sich mühsam vorwärts, sei dies an Krücken, mit Gehhilfen oder im Rollstuhl. Und trotzdem, ein Lächeln ist immer zu haben und es kommt von Herzen.
Aber zurück zum Thema. In der Morgenandacht wird mir so richtig bewusst, was heute anders ist. Da sitzt vorne in der Vorsinggruppe ein gemischter Haufen individuell angezogener Kinder, dasselbe Bild in den Reihen neben mir. Und ich merke, dass ich diese Kinder mit ganz anderen Augen anschaue als sonst. Irgendwie fehlt es mir bei diesem Anblick an Harmonie. Ist es reine Bequemlichkeit? Ist es einfach praktischer, wenn alle gleich angezogen sind? Wieso macht mir das jetzt so Mühe? Da sitzt einer im trägerlosen Shirt mit irgendeinem aufgedruckten Spruch auf der Brust in der Vorsinggruppe und ich merke, dass er für mich irgendwie nicht dorthin passt. Ich spüre, wie ich ihm anhand seiner Kleider unbewusst einen Stempel aufdrücke. Währenddem ich die Kinder vorher anhand ihres Ausdruckes, ihrer Stimme, ihrer Gestik, ihrer Mimik, ihres Verhaltens wahrgenommen habe, drängt sich nun das Äusserliche derart nach vorne, dass im ersten Eindruck die anderen Werte gar keinen Platz mehr finden und nach hinten gedrängt werden. Ich erahne bald einmal, wer zu Hause wohl etwas mehr und wer etwas weniger oder gar kein Geld zur Verfügung hat. Oder ist es nur ein Blenden der Kleidung? Einige kommen wirklich schick daher. Andere sitzen ebenfalls individuell gekleidet da, aber "schick" wäre wohl das falsche Wort. Und da ist noch diejenige Gruppe, welche trotzdem in der Schuluniform erscheint. Da wird der Unterschied ganz deutlich. Es sind wohl diejenigen, für welche die Schuluniform die "schickste" Kleidung ist. "Kleider machen Leute" oder besser "Kleider machen Klassenunterschiede". Dank der Schuluniform fallen diese Kinder, welche sie auch heute tragen (müssen), im Schulalltag weder auf noch ab. Es hat etliche Kinder, deren Eltern wahrscheinlich sehr froh sind, dass es diese Schuluniform gibt, dass die Kinder wenigstens diese zum Anziehen haben. Wenn ich am Donnerstag jeweils den Jungs, welche in der Physiotherapie Schwimmen gehen dürfen, beim Umziehen helfe, hat praktisch keiner Unterwäsche an. Dazu fehlt das Geld. Sie tragen einfach Schuluniformhemd und –hose, darunter sind sie nackt. Und trotz ihrer Armut können sie mit Würde und ohne ausgelacht oder ausgegrenzt zu werden zur Schule gehen, fühlen sich als ebenbürtiges Mitglied und können sich mit der Schule identifizieren. Schuluniform sei Dank! In der Stadt kann man immer wieder Gruppen von SchülerInnen sehen, die auf dem Weg zu oder von der Schule sind. Alle tragen die Uniform ihrer jeweiligen Schule. Sie sind als SchülerInnen sofort zu erkennen. Die Jungs müssen keine Marken-Hosen (Typ "Hosenscheisser") in den Kniekehlen tragen, um dem "Uniform-Zwang" des momentanen Modetrends zu genügen und auch die Mädchen dürfen als solche erkannt werden und müssen sich nicht auftakeln und so tun, als ob sie schon längst aus dem Schutzalter wären.
Die einzige Kleidervorschrift, die es in der Schule braucht, ist das tragen der Schuluniform. Und diese bietet relativ wenig Interpretationsspielraum. Da kann man sich als Lehrperson auf das Wesentliche, aufs Unterrichten konzentrieren und muss sich nicht mit Fragen wie "Dekolletee zu tief?", "Stringtanga sichtbar?",
"Gewaltverherrlichendes Emblem?", "Rechtsextremes Symbol oder nicht?" herumschlagen. Ich erinnere mich an Situationen wie diese, als ich einmal ein Mädchen ans Lehrerpult rief. Als sie neben mir stand, sagte ich ihr, sie solle sich ihre Hose hochziehen, was sie dann auch etwas verlegen machte. Als sie dann fragte, was ich von ihr wünsche, sagte ich: "Das ist eigentlich schon alles. Danke." Man mag das als AussenstehendeR als lustige, kleine Anekdote sehen. Aber es sind genau diese kleinen Dinge, die an der Substanz zehren, die Zeit kosten, die Konfliktpotenzial haben und eigentlich gar nicht nötig wären und vor allem gar nicht in die Schule gehören. Die Schule hat nun wirklich genügend andere, weiss Gott nicht einfache Aufgaben zu lösen! Das ganze Affentheater um die Kleider, würde dann dort landen, wo es auch effektiv hingehört - nach Hause nämlich. Auch dort würde einiges an Konfliktstoff verschwinden, wenn frühmorgens einfach klar wäre, was angezogen werden muss. Nämlich die Schuluniform. Klar würden Schuluniformen nicht sämtliche Kleiderdiskussionen aus dem Weg schaffen, schliesslich gibt es ja auch noch ein Leben neben der Schule, aber es würde vieles erleichtern, würde viele Zwänge aus dem Weg schaffen und die Kinder und Jugendlichen würden sicher keinen Schaden nehmen, sondern lernen, Teil einer Gemeinschaft, Teil einer Institution zu sein und sich mit dieser bestmöglich zu identifizieren. Sie würden ihre Freunde und Freundinnen nicht einfach anhand von Carhart, O'neill, Quicksilver, Zimtstern, Fubu oder Tommy Hilfiger aussuchen und andere deswegen nicht ausgrenzen oder auslachen, sondern sie würden vermehrt auf andere, sogenannte innere Werte achten. Werte, die diesen Namen auch verdienen. Die Identifikation mit der Schule würde sicher auch nur Positives bewirken. Plötzlich gehört man zu einer Schule, zu einer Gruppe, sieht vielleicht sogar die Schule nicht einfach als störendes Element, sondern merkt schon bevor man die Lehre antritt (sofern man eine Lehrstelle findet), dass das eine gute, lebenswichtige Sache ist, von der man profitieren kann.
Sämi, Louis und Alice haben alle auch gerne schöne und individuelle Kleider an. Auch sie stehen vor dem Spiegel und sind teils sehr sehr wählerisch. Das gehört dazu. Aber sie können das tipp-topp in der Freizeit ausleben. Das reicht ihnen vollkommen und sie sind froh, müssen sie dieses Prozedere nicht noch zusätzlich für die Schule machen. Louis meint sogar, er möchte dann zu Hause in der Schweiz auch eine Schuluniform, es müsste dann aber schon eine schöne sein, so eine wie hier im Kiran, die gefalle ihm. In der Stadt hat er schon andere gesehen, die ihm nicht so gefallen haben. Es muss ja nicht unbedingt eine mit Krawatte sein, wie es hier in Varanasi auch zu sehen ist (die Banker lassen grüssen...).
Ich bin überzeugt, dass man Schuluniformen kreieren kann, welche stilistische Varianten zulassen, so dass sie auch von verwöhnten, nach Individualität schreienden TrägerInnen, welche in der Schweiz die Schule besuchen, akzeptiert werden. Klar würde es am Anfang ein Riesengeschrei geben und viele würden denken, dass sei jetzt endgültig das Ende jeglicher Freiheit. Aber das kennen wir doch schon vom Rauchverbot her. Für ein paar Wenige ist das noch ein Problem, die Anderen haben sich mit der Situation abgefunden. Die Meisten davon wissen die neue Lebensqualität sogar zu schätzen, selbst wenn sie immer noch RaucherInnen sind.
Im Kanton Solothurn und auch anderswo gab es schon politische Vorstösse bezüglich Schuluniformen. Ehrlicherweise gebe ich zu, dass ich keine Freude daran hatte. Für mich waren diese Vorstösse zu sehr parteipolitisch und populistisch motiviert, zudem kamen sie für mich meist aus der falschen Ecke, von krawattierten, sich profilieren wollenden, ständig grinsenden oder auf den Tisch hauenden Menschen, die permanent im Rampenlicht stehen wollen.
Et voilà! Und schon ertappe ich mich wieder beim Interpretieren und Einstufen von Leuten anhand ihres Aussehens (Kleidung), ihrer politischen Parteizugehörigkeit, ihrem Foto in der Zeitung etc.
Vielleicht könnte ich diese Ideen eher akzeptieren, wenn sie von Leuten kämen, die nur in den Unterhosen dastehen. Aber nein! Diese wären dann ja wieder von Carhart, Tommy Hilfiger, Calida oder so. Dann doch lieber "füdliblutt"!
Und so wären wir wieder bei den kleinen Knöpfen beim Baden, welche dank der Schuluniform nicht abfallen. Und keinen stört es, dass sie kein Geld haben, um sich für drunter Unterhosen zu kaufen...
(Rémy)
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