Samstag, 7. November 2009

Verfrühtes Geburtstagsgeschenk- Swiss-Style vs. Indian-Style - Alltag

Am Donnerstag, 29. Oktober 2009, knapp einen Monat vor meinem Geburtstag, mache ich mir ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk. Ich kaufe mir ein nigelnagelneues Indian-Style-Fahrrad in Lanka. Es sieht soooo schön aus!



Beim Verhandeln um den Preis, ist nicht viel zu machen, immerhin gibt es noch einen Kindersitz gratis dazu, der sogleich auf die Mittelstange montiert wird. Ich entscheide mich übrigens für die Luxusvariante, welche etwa 8 Franken teurer ist, als ein anderes Modell. Da das Fahrrad umgerechnet nur etwa 50 Franken kostet, lasse ich die Feilscherei um den Preis bei diesem Angebot bleiben. "Only 15 minutes" soll es dauern, bis Schloss, Gepäckträger, Veloständer, Glocke, Pedale etc. fertig montiert seien. Ich sage, ich gehe inzwischen noch auf die Bank und käme in einer halben Stunde wieder.
Zusammen mit Sämi, der mich begleitet, gehen wir Rupien "tanken", was dank EC-Direct-Karte und Bancomat ganz günstig und schnell geht, und machen noch ein paar Einkäufe. Sämi begleite ich noch zum Suryoday, wo er dann den Kiranbus nehmen wird. Er will sich diesen Weg noch einmal genau einprägen (mehr dazu in seinem Blogeintrag). Als ich dann nach etwa einer dreiviertel Stunde zum Fahrradhändler komme, ist mein Fahrrad natürlich noch nicht ganz fertig. So begleiche ich erst mal meine Rechnung. Als das Teil dann fertig ist, hängt noch sämtlicher Verpackungsplastik und -karton dran, den ich dann aber noch vor Ort entferne. Die erste Sitzprobe zeigt, dass der Sattel zu tief ist, was hier in Indien bei den meisten Leuten zu sehen ist. Die Sattelstange ist nur sehr kurz und muss deshalb ausgewechselt werden. Da beim Lösen der Mutter die Schraube mitdreht und sich nicht lösen lässt, wird nicht lange gefackelt und zu Hammer und Keil gegriffen um die Schraubenmutter zu spalten. Ich kann fast nicht hinsehen, wie auf meinem neuen Rad rumgehämmert wird, aber auch das ist eben Indian-Style. Als mir vorher zum Beispiel der Fahrradständer gezeigt wurde, der dann an mein Rad käme, wurde dieser nach meinem zustimmenden Kopfwiegen laut scheppernd auf den Boden zurück geschmissen...
Ja, das mit dem Sattel dauert natürlich so seine Weile und der Verkäufer lädt mich dafür zu einem Tschai ein. Inzwischen ist es schon fast 17 h und die Sonne steht schon recht tief. Ich werde den grössten Teil meiner 14 Kilometer langen Jungfernfahrt wohl im Dunkeln absolvieren. Ganz so nebenbei frage ich den Verkäufer, ob es eigentlich auch Fahrräder mit Licht gebe. "No need", sagt er trocken und staunt nicht schlecht, als ich ihm erkläre, dass das nächtliche Fahren ohne Licht in der Schweiz eine Busse zur Folge hätte, mit der man gerade etwa so ein Fahrrad wie meines kaufen könne!
Ja und dann ist es endlich soweit. Ich sage "Phir milenge" und stürze mich in den allabendlichen Stossverkehr Varanasis. Was hat mir Sebi schon wieder gesagt? "Im Strassenverkehr musst du einfach für dich schauen! Das machen alle so!"
Ich fühle mich sofort wohl im Verkehrsfluss und kriege ein richtiges Hochgefühl - ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit erfüllt mich! Das ständige Gehupe nehme ich ganz gelassen, denn ich weiss ja inzwischen, dass das nicht einer Kriegserklärung gleichkommt oder der Fahrer nicht denkt "Du blöde Siech, gang jetz uf d'Site!" wie in unserer schönen, friedlichen, wohl geordneten Schweiz.
So lasse ich mich mit dem immer noch etwas zu tiefen Sattel treiben - fast fliege ich. Die Wahrnehmung ist eine ganz andere, als vom Bus aus. Und ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass mich jemand komisch anschaut. Mit meiner Benari-Style Dupatta (Halstuch) und wohl auch dank der Dämmerung, werde ich nicht wirklich als ausländisches Bleichgesicht begafft. Beim BHU-Gate um den Kreisel rum, dann alles geradeaus, am nackten Sadhu vorbei (der oben zwar inzwischen einen Wollpullover trägt), Sunderpur crossing, DLW links abbiegen, Chitaipur crossing, alles geradeaus. Beim Bypass angelangt ist es schon dunkel und die geteerte Strasse ist auch zu Ende. Es folgen nun etwa 2 km Schotterstrasse. Schotter heisst hier fast Tennisball grosse, eckige Steine, welche vor dem Teeren als Unterlage dienen, jetzt aber noch mehr oder weniger lose auf der Strasse liegen. Zeitweise ist es stockdunkel. Als Fahrradfahrer ist man dankbar, wenn von hinten eine Autoritschka, ein Motorrad, Traktor, Lastwagen oder sogar ein richtiges Auto mit Licht kommt. Kommen diese aber von vorne, ist das natürlich nicht so toll. Da kannst du die Augen auch gleich schliessen, es kommt auf das selbe raus. Nach dieser Schlotterpartie im Schneckentempo bin ich froh, als die Linksabbiegung kommt, welche von der "Hauptstrasse" wegführt. Jetzt geht's wieder zügiger vorwärts, der Mond steht hell am Himmel und leuchtet mir den Weg, welcher nun über die offenen Felder führt. Sogleich merke ich aber, dass es jetzt heisst: Mund zu und Augen zusammenkneifen! Denn auf einmal hat es hier unglaublich viele Mücken, Fliegen oder was auch immer. Bis zum Kiran hätte das locker eine sättigende Fleischmahlzeit gegeben, aber trotz knurrendem Magen, verzichte ich darauf. Kurz vor dem Kiran überhole ich ein Fahrrad und es tönt "Hey - Rémy uncle!" Es ist Anil aus der Bäckerei mit Somnath auf dem Gepäckträger. In der Dunkelheit hätte ich sie wohl nicht erkannt. Sie mich natürlich schon. Sie staunen nicht schlecht, mich auf dem neuen Fahrrad zu sehen. Und beim Geplaudere darüber bestätigt mir Anil, dass der Preis okay sei. Glücklich und etwas verschwitzt komme ich beim Kiran an. Ich bin froh, mir diese kleine Freiheit gekauft zu haben. Bei der ersten Familienfahrt merken wir allerdings, dass der Kindersattel auf der Stange für Alice zu klein ist. Den werden wir verschenken.

Wer die Fahrt auf der Karte mitverfolgen will, klickt hier !


"Uih, Rémy, i ha mi fasch verbrönnt bim dusche!", klagt Louis. Ja, nachdem es hier vor allem nachts langsam etwas kühler wird und in unserem Guesthouse - leider für uns am falschen Ort - ein Boiler hängt, kann ich es natürlich nicht lassen. Der muss dorthin kommen, wo wir täglich duschen. Die Wasseranschlüsse sind vorhanden, nur der Strom fehlt noch. Da ich solche Arbeiten gerne mache und der Indian-Style in Sachen Strom teilweise sehr "strange" ist, frage ich bei Antu, ob ich das selber machen dürfe. Ich darf! Und sogar das Material ist alles vorhanden. Den Bohrer hole ich mir aus der Ortho-Werkstatt. Den scheinbar einzigen vorhandenen Betonbohrstift beim Zimmermann und das ganze Stromermaterial kriege ich von Antu. Okay, der Betonbohrstift ist zu klein, so opfere ich einen Metallbohrer aus der Ortho-Werkstatt, den ich bei meinem Gebore jeweils rot glühen lasse. (Keine Angst Hampi, ich habe selbstverständlich sofort in der Stadt einen Ersatzbohrstift gekauft.) Improvisieren ist auch hier angesagt. So zum Beispiel wenn eine etwa 20 cm dicke Mauer mit einem normalen Bohrstift durchgebohrt oder eine Schraube gekürzt werden muss:









Es hat funktioniert. Und so werden die Schischigagas zu "Warmduschern"... Einzige Bedingung: "Bijli hai!"

Erstaunlich ist für mich immer wieder, dass hier oft improvisiert wird, oder Arbeiten "provisorisch" gemacht werden, obwohl das richtige Material eigentlich vorhanden wäre. "Es isch eifach angersch do..." Ab und zu lege ich halt selbst Hand an, wenn ich sehe, dass etwas gemacht werden muss.



Im Kiran-Alltag läuft vieles und ich habe das Gefühl, dass nun endlich einiges in die Gänge kommt, das ich schon lange pendent hatte. Das freut mich sehr. So zum Beispiel der Solar-Früchtetrockner für die Food Preservation und der Tischtennistisch beim Boyshostel. Eigentlich wollte ich da viel mehr selber Hand anlegen, aber ich komme praktisch gar nicht dazu. Und so mutiere ich ein bisschen zum kleinen Projekt-Manager und bin ganz froh darüber, denn ich spüre, dass hier viel Know-how und Interesse vorhanden ist und dieses gepaart mit konstruktivem und echtem Teamwork sicher zu sehr gutem Erfolg führt.
Der Solar-Trockner wird in Zusammenarbeit mit der Unit IQ-Toys gebaut:



Meine Idee eines Beton-Tischtennistisches (siehe frühere Blogeinträge) beim Boyshostel hat nun doch Anklang gefunden und wird jetzt realisiert. Hier quasi der "Spatenstich":



Die Food Preservation ist lanciert. Für diese bin ich jeweils an meinen "Ravi-freien" Vormittagen am Montag, Mittwoch und Freitag im Einsatz. Zusammen mit Vishaka, Renu und Rahul, unserem "Trainee" hat die Produktion von Konfitüren und Pickles angefangen. Hier drei unserer ersten Produkte (Suran-Pickles, Papaya-Jam und Pumpkin-Jam):



Sieht lecker aus, oder?

Und oft bin ich auch noch am Compi tätig. Wer mich kennt, weiss, dass ich das sehr gerne mache. Da gibt es einiges zu tun. Wie Rezepte finden, übersetzen und in ein einheitliches Design bringen, Labels entwerfen, Kostenberechnungen machen, Pläne entwerfen und an der Website basteln. Bald soll der Plan vom Kiran (siehe Blog vom 30.9.2009) auch noch interaktiv werden, so dass praktisch sämtliche Gebäude des Kirans anklickbar und sichtbar werden. Mehr dazu, wenns dann soweit ist.

Ja, es läuft immer etwas im Kiran und die Wochen fliegen nur so vorbei. Einerseits freue ich mich sehr auf unsere Reiserei in den Süden, andererseits mag ich gar nicht an den Abschied denken. That's life! Und es ist gut so.
(Rémy)

1 Kommentar:

  1. Hoi zäme
    Haben eben familienintern den Finalmatch gesehen, uns gefreut und gejubelt - leider ohne euch. Das Mitfiebern und Anfeuern eurer Jungs haben wir echt vermisst. Na ja, den nächsten WM-Final schauen wir wieder gemeinsam mit euch, ob mit oder ohne Schweizerbeteiligung. Auf bald, wir denken oft an euch!
    Mit lieben, herzlichen Grüssen

    s Kaisers

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