Zu meinem 45. Geburtstag nehme ich mir drei bis vier Stunden "Auszeit" und radle mit meinem Fahrrad Richtung Bajao (einem Nachbardorf) los. Mein erstes Ziel ist der Coiffeursalon, in dem schon Louis sich die Haare schneiden liess. Es ist elf Uhr und die Sonne scheint mir angenehm warm ins Gesicht - optimales Velowetter! Ich geniesse die frische Luft und das milde Wetter. Noch nie konnte ich meinen Geburtstag bei so warmen Temperaturen feiern...
In Bajao angekommen kurve ich zuerst mal die Strasse rauf und runter, um nach Louis Beschreibung, den Coiffeur zu finden. In Indien ist es nicht immer einfach, auf den ersten Blick zu sehen, was die Läden oder Buden zu bieten haben. Meist sehen sie sich ziemlich ähnlich. Alle sind in Hindi angeschrieben, einige noch zu, doch plötzlich sehe ich so etwas wie ein Coiffeursalon. Ich biege von der Strasse ab, parkiere mein Rad und frage unter zunahme meiner Hände, ob ich hier Haare schneiden könne. "Ha ha, baitye, baitye." "Ja, ja, setzen sie sich." Der Figaro scheint noch nicht da zu sein und so setze ich mich mal auf den Coifeurstuhl. Beim ersten Blick in den Spiegel wird mir fast schwindlig. Nicht wegen meines Anblickes, sondern weil der Spiegel irgendwie einen Fehler hat. Meine Augen gewöhnen sich aber schnell daran. Vor meinen Füssen türmen sich ein paar Backsteine, die wohl als Fussablage dienen. Auf der Ablage vor dem Spiegel sehe ich drei Scheren, zwei Kämme und ziemlich viel Haarschnipsel von meinen Vorgängern. Das stört mich aber überhaupt nicht, ich will hier ja schliesslich nicht essen, sondern Haare schneiden. In der Schweiz würde sich das sicher sofort rumsprechen, dass bei dem und dem Coiffeur die Ablage nicht einmal sauber sei und wohl schon bald könnte der Salon schliessen...
Ein paar Tuben, Fläschchen und Cremen gehören auch noch zum Dekor. Ah ja, Rasierpinsel und Rasiermesser fehlen natürlich ebenfalls nicht. Schliesslich ist es hier in Indien üblich, dass man sich auch oft rasieren lässt. Heute bin ich 45 Jahre alt und werde mich zum ersten Mal rasieren lassen. Da bin ich aber gespannt!
Aha, jetzt kommt der Figaro, ein kleiner, sympathischer Mann mit Schnauz (keine Seltenheit in Indien) schulterlangen, geölten und nach hinten gekämmten Haaren. Auf seine Frage gebe ich ihm zu verstehen, dass ich die Haare schneiden und rasieren wolle. "Kitna Rupie?", frage ich. "Biis." Und dann erklärt er mir noch, dass es zwei verschiedene Typen Rasiercreme gebe. Ich entscheide mich für die teurere Variante, schliesslich habe ich heute ja Geburtstag. Mit meinem bisschen Hindi gebe ich ihm noch zu verstehen, dass mein Sohn schon die Haare beim ihm schneiden liess und er bestätigt dies. Ich bin also im richtigen Salon gelandet.
So, jetzt geht's zur Sache. Zuerst kriege ich ein sauberes Frotteetuch um meinen Hals und dann werden meine Haare mit einem Wassersprüher befeuchtet und ein erstes Mal durchgeknetet und dann gekämmt. Ich kriege einen typisch indischen Seitenscheitel verpasst, was ich seit etwas mehr als 30 Jahren nie mehr getragen habe und los geht es mit der Schnipselei. Ich glaube kaum, dass ein Schweizer Coiffeur mit diesen Utensilien arbeiten könnte. Mein Figaro kann es und macht dabei einen sehr professionellen Eindruck. Er nimmt es sehr genau, für die Feinarbeit an den Partien um die Ohren verwendet er das Rasiermesser und zeigt mir ohne es zu wollen, dass er auch dieses Gerät im Griff hat. Komischerweise schneidet er aber überhaupt nichts in der Mitte, sondern nur ringsherum. Das hat schon Louis erzählt: "Är hett obe gar nüt gschnitte!". Als er fertig ist, gebe ich ihm zu verstehen, dass er oben auch noch etwas schneiden soll. Gut, sagt er und beginnt wieder über meinen Ohren zu schnipseln. "Oben", gebe ich ihm zu verstehen. "Ha ha!" Er hat mich also schon verstanden, muss aber scheinbar auf der Seite noch etwas nachschneiden, dass es dann mit der oberen Länge stimmt... also, er nimmt es wirklich sehr genau.
Beim Herumschauen fällt mir auch ein Adidas-After-Shave auf, dass sich dann beim zweiten oder dritten Blick, plötzlich als "Odidos" entpuppt. Eine perfekte Imitation - fast hätte ich es gar nicht bemerkt.
So, jetzt ist Teil eins fast fertig und ich kriege wieder eine kurze Kopfmassage verpasst. Dann wird mein Hals und meine Stirn eingepudert, bevor dann das Frotteetuch sorgfältig entfernt wird.
Teil zwei kann beginnen: die Rasur. Sehr sparsam drückt mein Figaro ein ganz kleines Bisschen Rasiercreme auf meine Backe und beginnt mit einschäumen. In derselben Zeit, in der er mich einschäumt, hätte ich mich zu Hause wohl schon fertig rasiert. Es ist aber unglaublich, wieviel Schaum er von dem kleinen Bisschen auf mein Gesicht zaubert. Und er schäumt und schäumt und schäumt - und ich geniesse, geniesse, geniesse... Bei der Schnauzpartie stockt er kurz und fragt nach, ob er da auch schäumen solle (kommt wohl bei Indern wirklich eher selten vor), was ich mit einem seitlichen Kopfnicken bejahe.
Schliesslich greift er zum Rasiermesser - zu diesem Teufelsding, mit dem ich mir selber vor vielen Jahren in einem Ökowahn, den halben Kopf blutig geschnitten habe - und rasiert mich gekonnt und sanft, als ob es ein Spielzeug wäre. Als er fertig ist, reinigt er mein Gesicht und beginnt abermals mit Einschäumen und rasiert mich schliesslich noch ein zweites Mal. Was für ein Service!
Was jetzt noch folgt, habe ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet. Es ist eine Abfolge von Cremen, Massage, Rasierwasser, Massage usw. vom Feinsten. Mein ganzer Kopf wird durchgeknetet, durchgeknuddelt, durchgeschüttelt . Auch die Haare kommen nochmals dran. Mit seinen Händen massiert er nochmals meine Kopfhaut und dieses Massieren endet immer mit einem lauten Zusammenklatschen seiner Hände. Es ist eine Wohltat!
Ja, und so nach ungefähr 45 Minuten ist das Ganze wirklich zu Ende. Ich mache noch ein paar Fotos zur Erinnerung und frage nochmals nach dem Preis für das Ganze. "Biis." Ich habe mich wirklich nicht verhört?!? Nein, er will tatsächlich nur 20 Rupien für das Ganze, etwa 45 Rappen. Was für eine andere Welt... Ich gebe ihm schliesslich noch 50 Prozent Trinkgeld obendrauf und erkläre, dass sei, weil ich heute Geburtstag habe, aber das hat er glaube ich nicht verstanden. Anyway. Wir verabschieden uns höflich mit einem Namaste, beide glücklich und zufrieden.
Mit dem Rad fahre ich dann noch in die Stadt, um mir Jeans zu kaufen. Die Strasse bis zum Bypass ist jetzt schon viel besser zu befahren. Sie ist zwar noch nicht geteert, aber die ehemals faustgrossen Steine haben sich inzwischen vom Schwerverkehr in den Boden gefressen. So ist es wie bei uns auf einem Feldweg. In der Stadt kaufe ich mir 2 Paar tipptoppe, moderne Jeans. Sie kosten zusammen "nur" 25 Franken. Nebst den eigentlichen Preisunterschieden, im Vergleich zur westlichen Welt, sind zusätzlich auch noch die Preis-Verhältnisse so verschieden.
Zu Hause überlege ich mir, dass ich für den Preis einer Jeans hier etwa 30 Mal(!!!) zum Friseur gehen könnte - Rasur inbegriffen...
(Rémy)
Samstag, 28. November 2009
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
wieder ein wunderbarer, ausführlicher bericht über die lebensgewohnheiten in indien, den ich eben mit einem schmunzeln gelesen habe und was für ein herrlicher geburtstag, der sicher ein lebenlang in erinnerung bleibt! danke für den blog.
AntwortenLöschengruss aus der schweiz.......rösli
Namaste an alle Ischi's
AntwortenLöschenDanke Euch für die regelmässigen, eindrücklichen Geschichten. Wenn ich Eure Berichte lese, ist es für mich immer wie eine kleine Reise nach Indien.
Wünsche Euch eine wunderschöne Adventszeit. Bei uns hat es heute das erste Mal geschneit.
Liebe Grüsse aus der schönen, kühlen Schweiz, Daniela
Hey Happy B'Day lucky fellow!Gruss Arjuna
AntwortenLöschen