Am Dienstag, 2. März 2010 beginnt unsere Kiran-Abschiedstour. Zum letzten Mal essen wir am Abend im Girlshostel. Vor dem Essen singen uns die Girls ein wunderschönes, berührendes Abschiedslied. Auch ihnen fällt es sehr schwer, dass wir nun endgültig das Kiran verlassen werden.
Nandhini hält noch eine kleine Dankesrede auf Hindi, welche die Tränendrüsen beider Seiten strapaziert und für alle gibt es einen Blumenstrauss, wie wir ihn bei unserer Begrüssung im August erhalten haben. Das war doch eben erst kürzlich... Es ist wirklich schwierig, den Gedanken ertragen zu können, hier weg zu gehen und all diese uns so sehr ans Herz gewachsenen Menschen zurücklassen zu müssen. Ein Trost für uns ist es zu wissen, dass sie hier im Kiran gefördert werden und gut aufgehoben sind. Trotzdem, es ist nicht einfach.
Auf unseren Wunsch hin, gibt es Puri und Sabji und es schmeckt vorzüglich. Zum Dessert gibt es eine Art Milchreis. Trotz dem Kummer schlagen wir uns die Bäuche voll, bis wir fast platzen. Nach dem Essen gehen wir nicht gerade in unser Guesthouse, sondern noch ein bisschen ins Zimmer von Pooja, welche heute ihren 19. Geburtstag hat, Nandhini und Deepu. Immer wieder heisst es: "Please don't go!" "Why do you go?" "Will you come back?" oder "No going, no going!" von denen, die nicht so gut Englisch können. Wir sagen, dass wir hoffen, wieder einmal zu kommen. Wahrscheinlich aber dann nicht mehr als Familie, weil das zu kompliziert und auch zu teuer ist. Sämi und Louis wollen dann einmal anstatt Militärdienst, Zivildienst hier im Kiran machen. Tatsächlich ist man nämlich daran, dass bereits ab diesem Herbst möglich zu machen.
Nachdem die Kinder zu Bett gegangen sind, setzen wir uns noch an unsere Compis. Es gibt noch soo viel zu tun und abzuschliessen. Erst nach zwölf Uhr schaffe ich es schliesslich ins Bett.
Der Mittwoch ist dann wieder geprägt von Abschlussarbeiten, die Zeit wird langsam eng. Um 15.30 h werden wir dann noch vom Staff und von den Trainees verabschiedet. Auch hier gibt es Lieder, schöne Worte, Geschenke und Tränen. Rahul, mein Trainee, hält eine rührende Abschiedsrede auf Hindi. Wir verstehen kaum ein Wort, aber trotzdem kommt die Message rüber. Er hat sich voll im Griff, obwohl wir alle wissen, wie schwer für ihn solche Situationen sind. Er ist ohne Familie, hat mit seinen ein- oder zweiundzwanzig Jahren schon eine schwere Lebensgeschichte und wird immer wieder getrennt von Menschen, die ihm ans Herz wachsen. "That's life!!", pflegt er jeweils zu sagen, so wie man's ihm erklärt hat. "That's life, that's life", ein schwacher Versuch sich zu trösten. Auch für uns ist es "That's life", aber wir gehen nach unserem Indien-Aufenthalt zurück in unsere gewohnte Umgebung, in unser Zuhause, zu unseren Familien. Aber Rahul und alle anderen werden immer wieder verlassen und bleiben zurück...
Vielleicht hat sich Rahul heute auch darum so gut im Griff: er hat nämlich Geburtstag! Rahul ist ein sehr sensibler junger Mensch, der oft unter Stimmungsschwankungen leidet. Wenn er aber wieder mal mit dem Schicksal hadert oder "am sich beschwerden" ist, reicht meist schon ein kleines Lob, sein Gesicht erhellt sich und sein typisches Rahul-Grinsen macht sich breit. Und die Vorfreude auf seine "Geburtstagsparty" kann eine so schwierige Situation wie das Abschiednehmen etwas auffangen. Eigentlich werden die Geburtstage der Kirankinder neu nur noch einmal im Jahr, gemeinsam für alle gefeiert, nämlich am Independence-Day. Doch Rahul's Geburi feiern wir trotzdem, denn er hat ja keine Familie, die das mit ihm feiert.
Zuerst erkläre ich aber Sibylle und der Volontärin Christine noch wie der Solartrockner funktioniert und was alles noch angepasst werden muss. Sibylle wird sich darum kümmern und ich bin überzeugt, dass der Trocker gute Dienste leisten wird.
Am Abend im Boyshostel kommt uns Rahul schon in neuen Kleidern entgegen und strahlt über beide Backen. Zusammen mit Hum Bahadur, dem Mann der neuen Boyshostel-Verantwortlichen, durfte er die Kleider in die Stadt einkaufen gehen. Als erstes, was typisch für Indien ist, kommt die Geburtstagstorte, die Rahul als Geburtstagskind eigenhändig den Erwachsenen verfüttert.
Die Kids kriegen anschliessend natürlichen auch noch ihren Teil der Torte ab. Danach geht es ans Geschenke auspacken und Rahuls Wünsche werden von Sibylle und Reenu erfüllt. Ein neues Hemd, eine Krawatte und eine Sonnenbrille. Er sieht aus wie ein Filmstar!
Von uns kriegt er auch noch einiges an Kleidern von Sämi, da wir diese nicht mehr mit in die Schweiz zurücknehmen. Auch für die kleineren Jungs lassen wir noch ein paar Säcke Kleider da.
Zum Znacht gibt es zur Feier des Tages auch hier Puri. Und dazu ein leckeres Kartoffel-Sabji. Schliesslich überreichen uns die Jungs, welche wirklich zum Knuddeln sind, auch noch Blumensträusse.
Ja, und dann gehen wir auch von hier weg. Der Abschied ist nicht ganz so sentimental, da wir zu den Jungs nicht die gleich intensive Beziehung hatten, wie mit den Girls, die ja praktisch neben unserer Haustüre wohnen (siehe auch http://www.ischis.ch/india/kiranmap.htm).
Meinen letzten Abend im Kiran verbringe ich wieder am Compi, wo ich die obenerwähnte Website soweit möglich noch fertig mache. Es wird nach ein Uhr, bis ich endlich aus dem Büro rauskomme. Claudia ist zu Hause am Packen und kommt auch erst kurz vor mir ins Bett.
Donnerstag, 4. März 2010 – unser letzter Tag im KIRAN. Zum letzten Mal um 09.00 h im Prayer. "Ao jalee" wird gesungen und die Kehle schnürt sich ein erstes Mal fest zu. Nach den letzten fünf Gongschlägen, wird zum letzten Mal "Sarvalok amangalam" intoniert und mit einem sonoren "Om shanti – shanti – shanti" abgeschlossen. Ja, und dann müssen wir als Familie auf die Bühne, wo wir, ein viertes Mal nun, von der versammelten Schülerschar verabschiedet werden.
Es gibt Dankesworte und nochmals ein Geschenk. Die Vorsinggruppe stimmt nochmals das Abschiedslied an, welches wir im Girlshostel schon gehört haben. Ich kann keinem Kind wirklich in die Augen schauen und klammere mich an Louis.
Es ist ein schöner, aber natürlich auch sehr schwieriger Moment.
Nach dem Prayer erkläre ich Vinod so quasi in letzter Minute noch, wie er mit der Excel-Tabelle, welche ich für ihn erstellt habe, umzugehen hat. Eigentlich wollte ich ihn das doch unter meiner Anleitung selber machen lassen. Aber eben, die Zeit war schlussendlich zu knapp. Und in letzter Sekunde erkläre ich Santosh noch, wie er die Kiranmap-Website anpassen kann. Auch eigentlich viel zu spät und zu knapp...
Ein letztes Mal checke ich noch online den Status unserer Zugreservationen. Von Varanasi bis Bhopal ist alles okay. Für die 22-stündige Weiterreise von Bophal nach Goa sind wir immer noch auf der Warteliste, auf den Positionen 3-7.
Plötzlich geht alles ganz schnell, der Jeep steht schon hinter dem Haus, noch schnell den einen oder anderen "Phir Milenge" sagen, einige sind aber wie vom Erdboden verschwunden... Schön, dass Satish noch schnell ans Gate kommt, uns fehlen beiden für einen Moment die Worte. Er sagt noch, wie glücklich er sei, dass die ursprünglichen Bedenken, eine ganze Familie als Volontäre aufzunehmen, sich in Luft aufgelöst haben. Und dann geht es los, Richtung Varanasi Junction, wo wir um etwa 16 Uhr den Zug besteigen. Goodbye KIRAN!
Unsere Plätze sind anfangs im Wagen noch ziemlich verstreut. Aber nach ein paar Verhandlungen mit flexiblen Indern, sind wir schliesslich alle mehr oder weniger beieinander und haben alle einen eigenen Liegeplatz. Alice, Sämi und Claudia haben sich schon schlafen gelegt. Louis und ich warten noch den Halt in Allahabad ab, weil wir denken, dass sie erst danach mit dem Essen vorbeikommen. Als wir dann nachfragen, stellt sich heraus, dass es keine Verpflegung im Zug gibt. Wir nehmens gelassen, Louis verdrückt noch ein Käsebrot und dann gehen auch wir in die Pfanne. Nachts erwache ich oft und bin in Gedanken immer wieder im KIRAN.
Freitagmorgen, 5. März 2010: Recht pünktlich kommen wir in Bhopal um etwa 8.30 h an. "Bhopal" – da kommt mir unweigerlich die riesige Giftgas-Katastrophe vom 3. Dezember 1984 in den Sinn - das "Hiroshima" Indiens, dem Zehntausende zu Opfer fielen. Was ist von einer Stadt, welche eine solche Katastrophe erleben musste zu erwarten? Laut Reiseführer bietet Bhopal glaube ich auch nicht allzuviel. Als erstes stellen wir unser Gepäck ein, weil wir müssen ja erst abends um acht Uhr wieder auf den Zug, sofern wir überhaupt einsteigen dürfen. Anschliessend geht es darum, herauszufinden, welchen Status unsere Reservation hat. Nach einigem Rumfragen finden wir den richtigen Schalter. Wir sind immer noch auf der Warteliste, und zwar unverändert auf den selben Positionen. Das würde bedeuten, dass wir den Zug gar nicht besteigen dürften. Man sagt uns, wir sollen um etwa 17 h wieder vorbeikommen, dann sollte die definitive Passagierliste schon fertiggestellt sein. Okay, wir sind zuversichtlich und überlegen uns, wie wir den Tag hier in Bhopal verbringen wollen. In unserem "Indien-der Süden"-Reiseführer ist Bhopal nicht erwähnt, da es eben im nördlichen Teil Indiens liegt. Und das Touristen-Informations-Büro am Bahnhof will einfach nicht aufmachen. Schliesslich finden wir heraus, dass heute in Bhopal ein Feiertag ist. Draussen sind uns schon ein paar rotgefärbte Holi-Typen begegnet, aber Holi war doch am 1. März und wir haben uns gedacht, die hatten wohl keine Seife zur Hand. Nun, ein Beamter am Schalter empfiehlt uns einen Ort, der nur 4 Stunden von Bhopal entfernt liege!!! Also darauf haben wir natürlich keine Lust und wir müssen ja auch rechtzeitig wieder zurück sein. Schliesslich macht er den Vorschlag, uns einen Ritschkafahrer zu organisieren, der uns in die Stadt bringen könnte, denn wir sind inzwischen schon ziemlich hungrig. Kurz darauf kommt er mit einem und meint es koste 500 Rupien. "How much???", ich denke der will uns veräppeln, aber es stellt sich dann heraus, wie Claudia richtig vermutet, dass er uns den ganzen Tag in der Stadt rumfährt und uns das Wichtigste zeigen wird. Aha, das tönt super und schon sitzen wir in einer superschönen Auto-Ritschka.
Wir geniessen den erfrischenden Fahrtwind, denn es ist schon ziemlich drückend und der Hunger verfliegt vorerst mal. Auf den Strassen ist nicht viel los und es scheint, dass praktisch alles geschlossen ist, was sich später auch bestätigt. Als Erstes schauen wir uns eine riesige, schöne Moschee an.
Und je länger wir in Bhopal unterwegs sind, desto mehr sind wir von der Stadt beeindruckt. Alles ist sehr sauber, es hat zwei Seen und teilweise könnte man meinen, man sei im Tessin an einer Seepromenade.
Doch leider ist wirklich alles geschlossen. Hier wird tatsächlich vier Tage nach Holi nochmals Holi gefeiert. Schade, so verkürzt sich unsere Stadttour natürlich um einiges. Alle Restaurants, die wir anfahren sind geschlossen und so essen wir halt in einem Hotel, welches direkt am See liegt.
Anschliessend ist unser sympathischer Ritschkafahrer schon bald am Ende mit seinem Latein.
Moscheen zu, Tempel zu, Aquarium zu usw.
So hängen wir noch etwas in einem Park rum und staunen nicht schlecht, als wir unten in einem der Seen eine Riesenschildkröte sichten.
Um etwa 3 Uhr fahren wir dann wieder zurück zum Bahnhof und vertrödeln uns die Zeit mit Kartenspiel und Brändi-Dog. Nach fünf Uhr sind wir wieder am Schalter. Situation unverändert. Wir sollen um sechs Uhr wieder kommen...
Um sechs Uhr sind wir in der Liste nachgerückt: Einen Liegeplatz haben wir auf sicher, die anderen sind auf der Warteliste die Nummern 1-4. Wie man uns informiert, ist der Zug völlig ausgebucht, wir dürfen aber mit dieser einen Platzzusicherung in den Zug einsteigen und müssen dann mit dem Wagenverantwortlichen schauen, ob es irgendwo noch freie Plätze hat. Aber, hat es nicht! Immerhin haben wir einen Liegeplatz unten und nicht oben. In unserem Abteil hat es auf zwei weiteren Plätzen ein Ehepaar mit zweijährigen Zwillingen und über uns noch ein weiterer Inder. Und wir sind zu fünft auf einer Bank. Eine Ausweichmöglichkeit, wie zum Beispiel im Gang stehen und zum Fenster hinausschauen oder so gibt es nicht, denn dort hat es ebenfalls Liegeplätze. Da wir bereits im Bahnhof gegessen haben, können wir es uns ersparen, in dieser engen Lage noch Essen zu müssen. So versuchen wir uns bestmöglich zu fünft einzurichten, aber schon nach kurzer Zeit schmerzt der Hintern, denn wir können uns kaum bewegen und sitzen so immer auf der gleichen Stelle. Wir kriegen eine kleine Vorahnung davon, wie es für all diejenigen ist, welche an einen Rollstuhl gefesselt sind. So warten wir geduldig, bis das Ehepaar endlich seine Kleinen gefüttert, gewickelt und ins Bett gebracht hat. Da sie sich damit nicht unbedingt einfach tun, dauert das so seine Weile... Endlich sind alle in der Pfanne, Alice und Claudia breiten die Wolldecke auf dem Boden aus und legen sich dort schlafen. Samuel kauert sich wie eine Schnecke zusammengerollt ans Fenster und Louis und ich quetschen uns aneinander, damit keiner runterfällt und mein Kopf liegt auf Sämis Hintern. Ich bin mal gespannt, wie lange er das aushält? Nach etwa einer Stunde sagt er, dass er nicht schlafen könne. "Das wundert mich nicht", sage ich und opfere meinen Platz für ihn. So kuscheln sich Sämi und Louis aneinander, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte und ich versuche mich auf dem verbleibenden Plätzchen sitzend ans Schlafen zu machen. Om Shanti! Jetzt ist Meditieren angesagt und zwar so, dass ich meinen Körper möglichst nicht mehr spüre, vor allem den Hintern nicht, den Rücken nicht, den Nacken nicht... es gelingt mir nicht wirklich. Ich rede mir ein, dass, wenn ich mit der Situation ein Problem habe, das einfach nur an mir liegt, wie ich es im Buddhisten-Kloster Kopan gelesen habe:
Every time a problem arises, the essentiel thing is to immediately become aware that the problem becomes from our selfish mind, that it is created by self cherishing thoughts. As long as you put the blame outside yourself there can be no happiness. (Lama Zopa Rinpoche)
Ich wechsle immer wieder die Stellung, mal im Schneidersitz, dann beide Beine nach unten, dann ein Bein angezogen, mal die Hand aufgestützt, mal die Hand oben am Gestänge haltend, mal vornüber den Kopf auf den Knien, mal die linke Arschbacke mehr belastend, mal die rechte mehr belastend, mal einen Fuss von Sämi auf der Schoss, mal einen in den Rippen, mal fällt mein Kopf nach vorne, mal zur Seite usw. usw. Immer im Bewusstsein, dass ich schuld daran bin, wenn ich mit dieser Situation ein Problem habe. Irgendeinmal nach etlichen Wachphasen und Albträumen, wird es dann schliesslich doch noch Morgen und nach fünf Uhr werden sogar ein paar Plätze frei. Allah! Gottseidank! Om nama Shivai! Om mani padme hum!
Die restlichen 14 Stunden Zugfahrt können wir sogar zusammen in einem Abteil verbringen und die Strapazen der vergangenen Nacht sind vergessen. Strapazen? Was für Strapazen? Wahrscheinlich hatte ich nur kurz ein Problem mit mir selber...
(Rémy)
Samstag, 6. März 2010
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