Sonntag, 29. November 2009

Wilder Westen im Kiran-Teil II - Ist schon Advent???

Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, seit ich mit dem Reiten begonnen habe. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, warum wir einen so "struben" Einstieg gehabt haben, denn in der Zwischenzeit sind Suraij und ich ein Herz und eine Seele: Er läuft an der Hand, zahm wie ein Lamm, schnappt nur noch selten nach mir und geniesst es auch, dass er nach getaner Arbeit jeweils einen Eimer Wasser von mir bekommt.
Da geben mir die Lehrkräfte noch länger zu beissen. Einige unterstützen mich, wo sie nur können, andere sind gar nicht gewillt, beim Projekt Reiten selber etwas dazu beizutragen, d.h. mir zu helfen die Kinder zu sichern welche am Reiten sind. Irgendwann habe ich es aufgegeben, die langen Diskussionen mit verschiedensten Leuten zu führen, die dann schlussendlich doch nicht zum gewünschten Erfolg führen. So habe ich mich entschieden, die ganze Sache selber anzupacken und "Familienintern" zu lösen: In Sämi und Louis habe ich zwei wunderbare Helfer gefunden, die kräftig und motiviert sind, die Kinder halten können oder auch zur Abwechslung mal das Pony führen. Ich bin richtig froh, sind sie den Umgang mit Pferden und Ponys gewohnt, Zehnder's sei Dank! Auch geniessen sie diese Abwechslung zum Schulunterricht in vollsten Zügen. An einem Morgen muss mir Sämi während zwei vollen Stunden helfen, d.h. wir gehen Kilometer weit, er ist danach total "k.o.", fällt nur noch ins Bett und sagt, er könne dann am Nachmittag nicht zur Schule. Nach ca. einer halben Stunde ist er aber wieder "regeneriert" und fit für die Schule am Nachmittag.
Die reitenden Kiran-Kinder geniessen die paar Minuten auf dem Rücken des Ponys meistens von Anfang an. Einige sind manchmal noch etwas ängstlich, versteifen sich und haben auch etwas Angst, aber alle können nach einigen Schritten Vertrauen fassen und sich der Bewegung des Ponys vollstens hingeben. Es ist auch spannend festzustellen, wie lange es dauert, bis ein Kind seine Anspannung oder Verkrampfung lösen kann und dafür ein Lächeln auf seinem Gesicht zeigt. Für mich ist es einfach nur unglaublich toll, so eine befriedigende Arbeit hier zu leisten, ich bekomme meinen "Lohn" immer unmittelbar von den Kindern selber.

Vor ca. zwei Wochen habe ich voller Schrecken festgestellt, dass schon bald erster Advent ist! Huch, mit dem habe ich noch überhaupt nicht gerechnet, denn ich wollte doch allen boys & girls von den Hostels ein Adventssäckli nähen für den Adventskalender. Ich merke, dass diese Aktion nur zu Stress führt, wenn ich diese jetzt wirklich verwirkliche, denn in meiner Freizeit hiesse das ab sofort: Nähen, nähen, nähen was das Zeug hält! Aber diesen Stress will ich mir wirklich nicht aufbürden, die Kinder hier bangen eh nicht auf Weihnachten, wie unsere Kinder normalerweise. Es ist so lustig, wie wir alle "0" Weihnachtsstimmung verspüren - und es ist einfach gut so! Ich merke aber, dass ich trotz allem "echli" etwas brauche und die Kinder das auch schätzen werden, einfach, damit Weihnachten nicht an uns vorbeigeht, und wir haben es nicht bemerkt! So gehe ich am Donnerstag - ja, ich habe einfach so einen freien Tag eingelegt - mit Ann, der Englischlehrerin von Irland, in die Stadt und wir verbringen einen fidelen Einkaufstag zusammen. Ich kaufe also vier rote Kerzen (d.h. weisse Kerzen, die mit einer transparentroten Folie eingewickelt sind) für ein Adventsgesteck und dazu noch ein kleines Schachteli bunter Krippenfiguren, die uns im Advent begleiten werden…
Heute, Sonntag 1. Advent, haben Louis und ich vor dem Brunch also ein Kartonkistli mit den vier Kerzen und viel Grünzeug beschmückt. Als wir im Garten damit beschäftigt sind, kommt ein Junge vorbei und fragt, was wir hier machen. Ich erkläre ihm, das sei etwas für "Advent". Dies ist natürlich ein Wort, das er nicht versteht und er sagt: "What Elefant?" Louis und ich schauen uns nur an und lachen! Unser Adventsgesteck schaut ganz nett aus, und wir entzünden die erste Kerze zum Brunch. Die neuen Krippenfiguren werden dazugestellt und Alice ist die nächsten 1.5 Std. damit beschäftigt mit diesen zu Spielen. So guet!
(Claudia)

Samstag, 28. November 2009

Wellness beim Figaro

Zu meinem 45. Geburtstag nehme ich mir drei bis vier Stunden "Auszeit" und radle mit meinem Fahrrad Richtung Bajao (einem Nachbardorf) los. Mein erstes Ziel ist der Coiffeursalon, in dem schon Louis sich die Haare schneiden liess. Es ist elf Uhr und die Sonne scheint mir angenehm warm ins Gesicht - optimales Velowetter! Ich geniesse die frische Luft und das milde Wetter. Noch nie konnte ich meinen Geburtstag bei so warmen Temperaturen feiern...
In Bajao angekommen kurve ich zuerst mal die Strasse rauf und runter, um nach Louis Beschreibung, den Coiffeur zu finden. In Indien ist es nicht immer einfach, auf den ersten Blick zu sehen, was die Läden oder Buden zu bieten haben. Meist sehen sie sich ziemlich ähnlich. Alle sind in Hindi angeschrieben, einige noch zu, doch plötzlich sehe ich so etwas wie ein Coiffeursalon. Ich biege von der Strasse ab, parkiere mein Rad und frage unter zunahme meiner Hände, ob ich hier Haare schneiden könne. "Ha ha, baitye, baitye." "Ja, ja, setzen sie sich." Der Figaro scheint noch nicht da zu sein und so setze ich mich mal auf den Coifeurstuhl. Beim ersten Blick in den Spiegel wird mir fast schwindlig. Nicht wegen meines Anblickes, sondern weil der Spiegel irgendwie einen Fehler hat. Meine Augen gewöhnen sich aber schnell daran. Vor meinen Füssen türmen sich ein paar Backsteine, die wohl als Fussablage dienen. Auf der Ablage vor dem Spiegel sehe ich drei Scheren, zwei Kämme und ziemlich viel Haarschnipsel von meinen Vorgängern. Das stört mich aber überhaupt nicht, ich will hier ja schliesslich nicht essen, sondern Haare schneiden. In der Schweiz würde sich das sicher sofort rumsprechen, dass bei dem und dem Coiffeur die Ablage nicht einmal sauber sei und wohl schon bald könnte der Salon schliessen...
Ein paar Tuben, Fläschchen und Cremen gehören auch noch zum Dekor. Ah ja, Rasierpinsel und Rasiermesser fehlen natürlich ebenfalls nicht. Schliesslich ist es hier in Indien üblich, dass man sich auch oft rasieren lässt. Heute bin ich 45 Jahre alt und werde mich zum ersten Mal rasieren lassen. Da bin ich aber gespannt!
Aha, jetzt kommt der Figaro, ein kleiner, sympathischer Mann mit Schnauz (keine Seltenheit in Indien) schulterlangen, geölten und nach hinten gekämmten Haaren. Auf seine Frage gebe ich ihm zu verstehen, dass ich die Haare schneiden und rasieren wolle. "Kitna Rupie?", frage ich. "Biis." Und dann erklärt er mir noch, dass es zwei verschiedene Typen Rasiercreme gebe. Ich entscheide mich für die teurere Variante, schliesslich habe ich heute ja Geburtstag. Mit meinem bisschen Hindi gebe ich ihm noch zu verstehen, dass mein Sohn schon die Haare beim ihm schneiden liess und er bestätigt dies. Ich bin also im richtigen Salon gelandet.
So, jetzt geht's zur Sache. Zuerst kriege ich ein sauberes Frotteetuch um meinen Hals und dann werden meine Haare mit einem Wassersprüher befeuchtet und ein erstes Mal durchgeknetet und dann gekämmt. Ich kriege einen typisch indischen Seitenscheitel verpasst, was ich seit etwas mehr als 30 Jahren nie mehr getragen habe und los geht es mit der Schnipselei. Ich glaube kaum, dass ein Schweizer Coiffeur mit diesen Utensilien arbeiten könnte. Mein Figaro kann es und macht dabei einen sehr professionellen Eindruck. Er nimmt es sehr genau, für die Feinarbeit an den Partien um die Ohren verwendet er das Rasiermesser und zeigt mir ohne es zu wollen, dass er auch dieses Gerät im Griff hat. Komischerweise schneidet er aber überhaupt nichts in der Mitte, sondern nur ringsherum. Das hat schon Louis erzählt: "Är hett obe gar nüt gschnitte!". Als er fertig ist, gebe ich ihm zu verstehen, dass er oben auch noch etwas schneiden soll. Gut, sagt er und beginnt wieder über meinen Ohren zu schnipseln. "Oben", gebe ich ihm zu verstehen. "Ha ha!" Er hat mich also schon verstanden, muss aber scheinbar auf der Seite noch etwas nachschneiden, dass es dann mit der oberen Länge stimmt... also, er nimmt es wirklich sehr genau.
Beim Herumschauen fällt mir auch ein Adidas-After-Shave auf, dass sich dann beim zweiten oder dritten Blick, plötzlich als "Odidos" entpuppt. Eine perfekte Imitation - fast hätte ich es gar nicht bemerkt.
So, jetzt ist Teil eins fast fertig und ich kriege wieder eine kurze Kopfmassage verpasst. Dann wird mein Hals und meine Stirn eingepudert, bevor dann das Frotteetuch sorgfältig entfernt wird.
Teil zwei kann beginnen: die Rasur. Sehr sparsam drückt mein Figaro ein ganz kleines Bisschen Rasiercreme auf meine Backe und beginnt mit einschäumen. In derselben Zeit, in der er mich einschäumt, hätte ich mich zu Hause wohl schon fertig rasiert. Es ist aber unglaublich, wieviel Schaum er von dem kleinen Bisschen auf mein Gesicht zaubert. Und er schäumt und schäumt und schäumt - und ich geniesse, geniesse, geniesse... Bei der Schnauzpartie stockt er kurz und fragt nach, ob er da auch schäumen solle (kommt wohl bei Indern wirklich eher selten vor), was ich mit einem seitlichen Kopfnicken bejahe.
Schliesslich greift er zum Rasiermesser - zu diesem Teufelsding, mit dem ich mir selber vor vielen Jahren in einem Ökowahn, den halben Kopf blutig geschnitten habe - und rasiert mich gekonnt und sanft, als ob es ein Spielzeug wäre. Als er fertig ist, reinigt er mein Gesicht und beginnt abermals mit Einschäumen und rasiert mich schliesslich noch ein zweites Mal. Was für ein Service!
Was jetzt noch folgt, habe ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet. Es ist eine Abfolge von Cremen, Massage, Rasierwasser, Massage usw. vom Feinsten. Mein ganzer Kopf wird durchgeknetet, durchgeknuddelt, durchgeschüttelt . Auch die Haare kommen nochmals dran. Mit seinen Händen massiert er nochmals meine Kopfhaut und dieses Massieren endet immer mit einem lauten Zusammenklatschen seiner Hände. Es ist eine Wohltat!
Ja, und so nach ungefähr 45 Minuten ist das Ganze wirklich zu Ende. Ich mache noch ein paar Fotos zur Erinnerung und frage nochmals nach dem Preis für das Ganze. "Biis." Ich habe mich wirklich nicht verhört?!? Nein, er will tatsächlich nur 20 Rupien für das Ganze, etwa 45 Rappen. Was für eine andere Welt... Ich gebe ihm schliesslich noch 50 Prozent Trinkgeld obendrauf und erkläre, dass sei, weil ich heute Geburtstag habe, aber das hat er glaube ich nicht verstanden. Anyway. Wir verabschieden uns höflich mit einem Namaste, beide glücklich und zufrieden.


Mit dem Rad fahre ich dann noch in die Stadt, um mir Jeans zu kaufen. Die Strasse bis zum Bypass ist jetzt schon viel besser zu befahren. Sie ist zwar noch nicht geteert, aber die ehemals faustgrossen Steine haben sich inzwischen vom Schwerverkehr in den Boden gefressen. So ist es wie bei uns auf einem Feldweg. In der Stadt kaufe ich mir 2 Paar tipptoppe, moderne Jeans. Sie kosten zusammen "nur" 25 Franken. Nebst den eigentlichen Preisunterschieden, im Vergleich zur westlichen Welt, sind zusätzlich auch noch die Preis-Verhältnisse so verschieden.
Zu Hause überlege ich mir, dass ich für den Preis einer Jeans hier etwa 30 Mal(!!!) zum Friseur gehen könnte - Rasur inbegriffen...
(Rémy)

Freitag, 27. November 2009

Radio-Interview ist online...




Abendstimmung - November, Indien

So, auch in der Schweiz dauert es manchmal etwas länger...
Doch nun ist das Interview vom 18.10.2009 online und auf folgendem Link abrufbar:
(Rémy)
Radiointerview DRS3-weltweit

Sonntag, 22. November 2009

HRTC Inauguration

"Habt ihr keinen Strom?" "Geht es euch gut?" "Wir haben schon lange keine "Gutenachtgeschichte" (Blog) mehr von euch erhalten!"

Ja, ja! Don't worry. Es geht uns gut, es war einfach sehr viel los, so dass wir gar nicht zum Bloggen kamen...

Die letzten zwei Wochen sind geprägt von den Vorbereitungen für die HRTC Inauguration. HRTC heisst "Human Resource Training Centre". Es ist ein Ausbildungszentrum im Kiran, in welchem dann hoffentlich schon bald Fachkräfte in den Bereichen Sozial- und Heilpädagogik ausgebildet werden. An solchen Fachkräften mangelt es in Indien und natürlich mangelt es eben auch an entsprechenden Ausbildungsmöglichkeiten. Um diese Situation zu verbessern, hat man hier im Kiran das Heft selber in die Hand genommen.
Nun, das ganze Gebäude hätte eigentlich schon im vergangenen Sommer fertig sein müssen, doch weit gefehlt, denn in Indien dauert wieder einmal mehr, vieles etwas länger. So sah es zum Beispiel im August aus, kurz nachdem wir angekommen sind.



Das Datum für die Einweihungsfeier steht schon seit längerem fest. Es soll der 19. November 2009 sein, da an diesem Tag Gäste des Hauptsponsors für dieses Projekt aus Luxemburg hier im Kiran sind.
Schon im August denke ich, dass das wohl noch länger als bis Mitte November dauern wird. Irgendwie hat es mir zu wenige Arbeiter/innen auf der Baustelle, wo halt vieles noch von Hand und mit einfachen Mitteln gemacht wird. Erst nach Deepwali, einen Monat vor der Einweihung kommen endlich mehr Leute auf die Baustelle. Es wird fast 24 Stunden pro Tag gearbeitet und einmal ist sogar ein richtiger Schaufelbagger vorhanden, der die Erdmassen für die Umgebung hin- und herschiebt. Ich bin wirklich beeindruckt, wie die Leute hier Gas geben und am 19. November 2009 ist das Ganze dann wirklich... Nein, vergesst es, natürlich ist der Bau noch nicht fertig. Aber immerhin können wir das Fest trotzdem starten, mehr halt einfach im Stil einer Aufrichtefeier. In die provisorischen Räumlichkeiten werden ein paar Möbel reingestellt, so dass es etwas "wohnlicher" aussieht. Die Möbel sind immer noch mit Plastik überzogen, einerseits zum Schutz und anderseits, weil sie dann wieder zurück zum Lieferant gehen, da scheinbar nicht die richtigen geliefert wurden. In der zukünftigen Fachbibliothek, wo am Fest zum Apero der Kaffee und Tschai serviert wird, werden noch schnell zwei Schränke reingestellt, voll mit Fachliteratur und Anschauungsmaterial. Es sieht fast wie echt aus!
Ja, und die zwei Wochen zuvor sind eben wie schon erwähnt, mit vielen Vorbereitungsarbeiten belegt. Unsere ganze Familie ist am grossen Tag im Einsatz. Alice macht beim "Lakeriki kati" mit, dem Lied in dem Claudias Steckenpferde zum Einsatz kommen.

Beim Rainbow-Song (Rägebögeler - Mini Farb und dini), der von Claudia übersetzt und mit ihrer Hilfe einstudiert wurde, sind nebst Claudia auch Sämi und Louis als Sänger dabei.



Ich bin selber als Hof-Fotograf und in einem Gruppentanz auch noch als Hof-Narr (Joker) engagiert.
Wie man sieht, ist der Dress-Code nicht bei allen gleich...


Das Fest ist ein voller Erfolg (Bau fertig hin oder her) und macht allen viel Spass. Hier noch ein paar Bilder dazu.
(Rémy)




Samstag, 7. November 2009

Verfrühtes Geburtstagsgeschenk- Swiss-Style vs. Indian-Style - Alltag

Am Donnerstag, 29. Oktober 2009, knapp einen Monat vor meinem Geburtstag, mache ich mir ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk. Ich kaufe mir ein nigelnagelneues Indian-Style-Fahrrad in Lanka. Es sieht soooo schön aus!



Beim Verhandeln um den Preis, ist nicht viel zu machen, immerhin gibt es noch einen Kindersitz gratis dazu, der sogleich auf die Mittelstange montiert wird. Ich entscheide mich übrigens für die Luxusvariante, welche etwa 8 Franken teurer ist, als ein anderes Modell. Da das Fahrrad umgerechnet nur etwa 50 Franken kostet, lasse ich die Feilscherei um den Preis bei diesem Angebot bleiben. "Only 15 minutes" soll es dauern, bis Schloss, Gepäckträger, Veloständer, Glocke, Pedale etc. fertig montiert seien. Ich sage, ich gehe inzwischen noch auf die Bank und käme in einer halben Stunde wieder.
Zusammen mit Sämi, der mich begleitet, gehen wir Rupien "tanken", was dank EC-Direct-Karte und Bancomat ganz günstig und schnell geht, und machen noch ein paar Einkäufe. Sämi begleite ich noch zum Suryoday, wo er dann den Kiranbus nehmen wird. Er will sich diesen Weg noch einmal genau einprägen (mehr dazu in seinem Blogeintrag). Als ich dann nach etwa einer dreiviertel Stunde zum Fahrradhändler komme, ist mein Fahrrad natürlich noch nicht ganz fertig. So begleiche ich erst mal meine Rechnung. Als das Teil dann fertig ist, hängt noch sämtlicher Verpackungsplastik und -karton dran, den ich dann aber noch vor Ort entferne. Die erste Sitzprobe zeigt, dass der Sattel zu tief ist, was hier in Indien bei den meisten Leuten zu sehen ist. Die Sattelstange ist nur sehr kurz und muss deshalb ausgewechselt werden. Da beim Lösen der Mutter die Schraube mitdreht und sich nicht lösen lässt, wird nicht lange gefackelt und zu Hammer und Keil gegriffen um die Schraubenmutter zu spalten. Ich kann fast nicht hinsehen, wie auf meinem neuen Rad rumgehämmert wird, aber auch das ist eben Indian-Style. Als mir vorher zum Beispiel der Fahrradständer gezeigt wurde, der dann an mein Rad käme, wurde dieser nach meinem zustimmenden Kopfwiegen laut scheppernd auf den Boden zurück geschmissen...
Ja, das mit dem Sattel dauert natürlich so seine Weile und der Verkäufer lädt mich dafür zu einem Tschai ein. Inzwischen ist es schon fast 17 h und die Sonne steht schon recht tief. Ich werde den grössten Teil meiner 14 Kilometer langen Jungfernfahrt wohl im Dunkeln absolvieren. Ganz so nebenbei frage ich den Verkäufer, ob es eigentlich auch Fahrräder mit Licht gebe. "No need", sagt er trocken und staunt nicht schlecht, als ich ihm erkläre, dass das nächtliche Fahren ohne Licht in der Schweiz eine Busse zur Folge hätte, mit der man gerade etwa so ein Fahrrad wie meines kaufen könne!
Ja und dann ist es endlich soweit. Ich sage "Phir milenge" und stürze mich in den allabendlichen Stossverkehr Varanasis. Was hat mir Sebi schon wieder gesagt? "Im Strassenverkehr musst du einfach für dich schauen! Das machen alle so!"
Ich fühle mich sofort wohl im Verkehrsfluss und kriege ein richtiges Hochgefühl - ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit erfüllt mich! Das ständige Gehupe nehme ich ganz gelassen, denn ich weiss ja inzwischen, dass das nicht einer Kriegserklärung gleichkommt oder der Fahrer nicht denkt "Du blöde Siech, gang jetz uf d'Site!" wie in unserer schönen, friedlichen, wohl geordneten Schweiz.
So lasse ich mich mit dem immer noch etwas zu tiefen Sattel treiben - fast fliege ich. Die Wahrnehmung ist eine ganz andere, als vom Bus aus. Und ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass mich jemand komisch anschaut. Mit meiner Benari-Style Dupatta (Halstuch) und wohl auch dank der Dämmerung, werde ich nicht wirklich als ausländisches Bleichgesicht begafft. Beim BHU-Gate um den Kreisel rum, dann alles geradeaus, am nackten Sadhu vorbei (der oben zwar inzwischen einen Wollpullover trägt), Sunderpur crossing, DLW links abbiegen, Chitaipur crossing, alles geradeaus. Beim Bypass angelangt ist es schon dunkel und die geteerte Strasse ist auch zu Ende. Es folgen nun etwa 2 km Schotterstrasse. Schotter heisst hier fast Tennisball grosse, eckige Steine, welche vor dem Teeren als Unterlage dienen, jetzt aber noch mehr oder weniger lose auf der Strasse liegen. Zeitweise ist es stockdunkel. Als Fahrradfahrer ist man dankbar, wenn von hinten eine Autoritschka, ein Motorrad, Traktor, Lastwagen oder sogar ein richtiges Auto mit Licht kommt. Kommen diese aber von vorne, ist das natürlich nicht so toll. Da kannst du die Augen auch gleich schliessen, es kommt auf das selbe raus. Nach dieser Schlotterpartie im Schneckentempo bin ich froh, als die Linksabbiegung kommt, welche von der "Hauptstrasse" wegführt. Jetzt geht's wieder zügiger vorwärts, der Mond steht hell am Himmel und leuchtet mir den Weg, welcher nun über die offenen Felder führt. Sogleich merke ich aber, dass es jetzt heisst: Mund zu und Augen zusammenkneifen! Denn auf einmal hat es hier unglaublich viele Mücken, Fliegen oder was auch immer. Bis zum Kiran hätte das locker eine sättigende Fleischmahlzeit gegeben, aber trotz knurrendem Magen, verzichte ich darauf. Kurz vor dem Kiran überhole ich ein Fahrrad und es tönt "Hey - Rémy uncle!" Es ist Anil aus der Bäckerei mit Somnath auf dem Gepäckträger. In der Dunkelheit hätte ich sie wohl nicht erkannt. Sie mich natürlich schon. Sie staunen nicht schlecht, mich auf dem neuen Fahrrad zu sehen. Und beim Geplaudere darüber bestätigt mir Anil, dass der Preis okay sei. Glücklich und etwas verschwitzt komme ich beim Kiran an. Ich bin froh, mir diese kleine Freiheit gekauft zu haben. Bei der ersten Familienfahrt merken wir allerdings, dass der Kindersattel auf der Stange für Alice zu klein ist. Den werden wir verschenken.

Wer die Fahrt auf der Karte mitverfolgen will, klickt hier !


"Uih, Rémy, i ha mi fasch verbrönnt bim dusche!", klagt Louis. Ja, nachdem es hier vor allem nachts langsam etwas kühler wird und in unserem Guesthouse - leider für uns am falschen Ort - ein Boiler hängt, kann ich es natürlich nicht lassen. Der muss dorthin kommen, wo wir täglich duschen. Die Wasseranschlüsse sind vorhanden, nur der Strom fehlt noch. Da ich solche Arbeiten gerne mache und der Indian-Style in Sachen Strom teilweise sehr "strange" ist, frage ich bei Antu, ob ich das selber machen dürfe. Ich darf! Und sogar das Material ist alles vorhanden. Den Bohrer hole ich mir aus der Ortho-Werkstatt. Den scheinbar einzigen vorhandenen Betonbohrstift beim Zimmermann und das ganze Stromermaterial kriege ich von Antu. Okay, der Betonbohrstift ist zu klein, so opfere ich einen Metallbohrer aus der Ortho-Werkstatt, den ich bei meinem Gebore jeweils rot glühen lasse. (Keine Angst Hampi, ich habe selbstverständlich sofort in der Stadt einen Ersatzbohrstift gekauft.) Improvisieren ist auch hier angesagt. So zum Beispiel wenn eine etwa 20 cm dicke Mauer mit einem normalen Bohrstift durchgebohrt oder eine Schraube gekürzt werden muss:









Es hat funktioniert. Und so werden die Schischigagas zu "Warmduschern"... Einzige Bedingung: "Bijli hai!"

Erstaunlich ist für mich immer wieder, dass hier oft improvisiert wird, oder Arbeiten "provisorisch" gemacht werden, obwohl das richtige Material eigentlich vorhanden wäre. "Es isch eifach angersch do..." Ab und zu lege ich halt selbst Hand an, wenn ich sehe, dass etwas gemacht werden muss.



Im Kiran-Alltag läuft vieles und ich habe das Gefühl, dass nun endlich einiges in die Gänge kommt, das ich schon lange pendent hatte. Das freut mich sehr. So zum Beispiel der Solar-Früchtetrockner für die Food Preservation und der Tischtennistisch beim Boyshostel. Eigentlich wollte ich da viel mehr selber Hand anlegen, aber ich komme praktisch gar nicht dazu. Und so mutiere ich ein bisschen zum kleinen Projekt-Manager und bin ganz froh darüber, denn ich spüre, dass hier viel Know-how und Interesse vorhanden ist und dieses gepaart mit konstruktivem und echtem Teamwork sicher zu sehr gutem Erfolg führt.
Der Solar-Trockner wird in Zusammenarbeit mit der Unit IQ-Toys gebaut:



Meine Idee eines Beton-Tischtennistisches (siehe frühere Blogeinträge) beim Boyshostel hat nun doch Anklang gefunden und wird jetzt realisiert. Hier quasi der "Spatenstich":



Die Food Preservation ist lanciert. Für diese bin ich jeweils an meinen "Ravi-freien" Vormittagen am Montag, Mittwoch und Freitag im Einsatz. Zusammen mit Vishaka, Renu und Rahul, unserem "Trainee" hat die Produktion von Konfitüren und Pickles angefangen. Hier drei unserer ersten Produkte (Suran-Pickles, Papaya-Jam und Pumpkin-Jam):



Sieht lecker aus, oder?

Und oft bin ich auch noch am Compi tätig. Wer mich kennt, weiss, dass ich das sehr gerne mache. Da gibt es einiges zu tun. Wie Rezepte finden, übersetzen und in ein einheitliches Design bringen, Labels entwerfen, Kostenberechnungen machen, Pläne entwerfen und an der Website basteln. Bald soll der Plan vom Kiran (siehe Blog vom 30.9.2009) auch noch interaktiv werden, so dass praktisch sämtliche Gebäude des Kirans anklickbar und sichtbar werden. Mehr dazu, wenns dann soweit ist.

Ja, es läuft immer etwas im Kiran und die Wochen fliegen nur so vorbei. Einerseits freue ich mich sehr auf unsere Reiserei in den Süden, andererseits mag ich gar nicht an den Abschied denken. That's life! Und es ist gut so.
(Rémy)

Mittwoch, 4. November 2009

Einkaufen - Busfahren

Mein Hobby ist neuerdings Busfahrten in die Stadt machen. Ich fahre fast jeden Tag alleine im Kiran-Bus. Im Moment sitze ich auch gerade im Bus. Heute ist es eine spezielle Fahrt, ich habe nämlich den Auftrag: Käse, 500g Schokoladenpulver, 12 Bananen, 1kg Zwiebeln und 1kg Tomaten zu kaufen und das alleine in einer Stadt mit 2-3 Millionen Einwohnern.
Im Krishna Shop wo der Käse und die Schokolade ist, ist es noch kein Problem, die Mitarbeiter können alle Englisch.
Käse haben sie nicht, darum gehe ich in den Shop nebenan, der hat Käse.
Jetzt bin ich bei Bablu mit den Bananen. Das ist auch kein Problem, er kann Englisch und ist ein sehr guter Freund von uns.
Beim Gemüseverkäufer wird es schon schwieriger, ich habe die Tomaten bestellt, ek keitschi (1 kg) verstehen alle. Doch jetzt sagt er mir den Preis in Hindi und ich weiss nicht was es heisst, aber glücklicherweise kommt gleich ein anderer Kunde der englisch kann und sagt mir dass es 20 Rupees (40 Rp.) kostet.
Ich kaufe die Zwiebeln jetzt halt beim Bypass, wo der gewöhnliche 10min!!!!! Stopp ist. Der der übrigens bis jetzt noch nie UNTER 25 min war. Also ich kaufe die Zwiebeln hier, auch bei einer alten Frau, die wir schon gut kennen, sie kann auch nicht Englisch, aber ein Mann hilft ihr immer und der sagt mir, dass es 28 Rs. sind (54 Rp.).

Ich komme mit einem super Gefühl nach Hause, da ich alles zusammen habe. Und als Belohnung muss ich die neue Uhr, die ich mir heute auch ganz alleine um 45 Rupien auf 80 Rupien heruntergehandelt habe und ein Lassi, dass ich mir gegönnt habe, nicht vom eigenen Geld zahlen. Die Uhr ist übrigens eine Swatch mit dem Registrierzeichen und einem Schweizer Kreuz.
(Sämi)